Das breite, groß angelegte epische Kunstwerk ist nicht nur möglich und bleibt weiter möglich, sondern es ist das eigentliche Kunstwerk unserer Zeit. Freilich kann ich vom Roman nur als einer Möglichkeit, einer Idealität sprechen, aber der Roman, in seiner Idealität, wenn wir sie zu erfüllen vermöchten, in seinem eigentlichen Begriffe, wäre wirklich ein Gesamtkunstwerk, wie es frühere Zeiten, ich denke an die Gotik zum Beispiel, in ihrem Kirchenbau – auf einer allerdings höheren Ebene – hatten. Wir haben die Möglichkeit, im Roman, die Zeit wirklich zu bewältigen und gesamtkünstlerisch zu arbeiten. Der Roman ist Geschichtsschreibung, er ist Dichtung, er ist erarbeitet mit den Mitteln der Malerei, mit den Mitteln der Musik, wenigstens in seiner Komposition und seiner Sprachkadenzierung. Es wird kaum eine Zeit geben vor der unseren, die über sich selbst so viele bis ins Detail gehende und präzise Aussagen gemacht hat wie unsere Zeit mit ihrer Romanliteratur. Den Roman als vergangen, und als etwa in einer tödlichen Krise befindlich zu erachten, halte ich für verfehlt. Es heißt nur, seine Technik noch weiter zu entwickeln und von einer mehr additiven und rein aufeinander folgenden Erzählung langsam vorzuschreiten zu höheren Arten der Erzählung, zu einer Gleichzeitigkeit der Zeiten im Roman oder ähnlichen kühneren Griffen in die Wirklichkeit des Lebens ohne sich so sehr an dessen Oberfläche zu klammern.
(Heimito von Doderer in einem Interview zur Veröffentlichung des Romans "Die Strudlhofstiege", 1951)
david ramirer - Mittwoch, 6. Dezember 2006, 00:02